wenn der geist eintrifft

1.    bleib wo du bist
2.    trau deiner müdigkeit, denn in ihr kann die Andere Kraft auftauchen
3.    beschleunige nichts, verzögere nichts, bleib nur gleichauf

Eine junges Mädchen sitzt auf dem Balkon über dem Meer. Sie träumt sich klein, ganz klein. Mama sitzt auf dem Balkon, sie sitzt auf Mamas Schoß und unter ihnen liegt das Meer. Das ist gut. Und dazu gehen die Abendglocken. Mamas Hand ist warm. Der Balkon hat ein Geländer, damit man nicht abstürzt. Und die Glocken läuten den Sonntag ein. Das Meer ist weit, und es schmerzt nicht. Gar nichts schmerzt.

4.    alles nötige geschieht von selbst
5.    dein mund bleibt vielleicht verklebt, aber es kann sein, dass du ihn jetzt dafür liebst
6.    ertrag es, dass die anderen nicht gleich empfinden, selbst wenn sie neben dir wohnen
7.    was geschieht, bringt seine eigene kraft mit –  vertrau darauf, selbst wenn dir die
kräfte schwinden

Ein Kind. Es winkt dem abfahrenden Zug. Darin sitzt niemand, den es kennt. Das Kind winkt gern Zügen. Der Zug fährt in ein Land, in dem es keine Gleise gibt. Er wird vorher halten müssen. Man wird zu Fuß weitergehen. Das Kind dreht sich um und geht heim, es weiß Bescheid.

8.    bleib wo du bist und wirf geld aus dem zugfenster – schau den geldscheinen zu, wie
sie zu boden sinken
9.    achte aus den augenwinkeln auf die, die es mit dir synchron ereilt
10.  lass die anderen in ruhe, ihr seid längst verbunden

Zwei Frauen in einer Berghütte. Eine geht am Abend schlafen, die andere schreibt nachts mit Kreide an die Innenwände der Holzhütte. Sie schreibt und kann nicht aufhören damit. Es wird dunkel und sie schreibt und schreibt. Alles, was je in ihr war. Auf die Wände. Am anderen Morgen wachen beide auf, küssen sich und fahren ab, jede in eine andere Richtung.

11.    versuch nichts mitzunehmen, du wirst sowieso verwandelt
12.    schau zu, wie an dir gearbeitet wird
13.    wenn es vorbei ist, dreh dich um und sieh an, was war: du wirst staunen

Eine große Gruppe von Männern. Sie sitzen in der Mittagshitze auf der Erde im Sand, nackt, in einem großen Kreis. Wenden sich in eine Mitte und recken die Arme dahin, wo nichts ist. Die Hände flattern, und sie stoßen wirre und spitze Laute aus, alle gleichzeitig, es klingt wie ein Vogelschwarm. Wie auf ein Zeichen der Luftsäule in der Mitte legen sich alle gleichzeitig nach hinten. So liegt jeder nun im Schoß des Mannes hinter ihm. Bis auf die am äußersten Rand. Die sitzen und halten Wache. So liegen sie, bis es soweit ist.

14.    fürchte nicht die trennung von denen, die du nah gewähnt hast: ihr findet euch
anders wieder
15.    hab jetzt ein einziges lieb, das reicht für alles
16.    wenn du noch angst hast vor dem tod, hast du ihn falsch gelesen

Eine Kinderhand, die leicht und neugierig über die geschlossenen Augen der liegenden Frau streicht. Wieder und wieder fährt sie über ihre faltigen Lider. Zupft vorsichtig an den Wimpern. Hält ihr die Nase zu, lange. Steckt den Zeigefinger zwischen die Lippen. Fährt die Form der Ohren ab mit den Fingern. Legt sich schließlich auf die Frau, Bauch zu Bauch, bläst ihr in die Nase und summt leise das Abendlied.

17.    achte auf den dank, der von selbst in dir wächst
18.    schau ins gesicht neben dir, da wohnt das Große Andere

Eine alte Dame in einem rosa Seidenkleid, das sie immer anzieht, wenn sie Kerzen anzünden geht. Sie hat einen großen Vorrat davon in einem Rollköfferchen, das sie hinter sich her zieht. Sie fährt einmal in der Woche die Kirchen der Stadt ab, es sind jedesmal 21. In jeder entzündet sie 14 Kerzen, in der letzten 12 – macht 292. Die Zahl der Lebens-Tage des Enkelkindes. Morgen wird sie damit aufhören, dann wird sie das Rollwägelchen in den Fluss werfen und das Seidenkleid auch. Sie wird nicht nachschauen, wie beides davonfließt. Sie wird sich umdrehen und gehen. Denn sie ist jetzt frei.

19.    verneige dich vor dem Großen, das in deiner nähe wohnt: du bist dafür nicht
verantwortlich.

von Thomas Hirsch-Hüffell, http://www.gottesdienstinstitut-nordkirche.de

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Bildnachweis: pgh / photocase.de

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