Leben auf!

(Fortsetzung von Tür auf!)

Es ist Donnerstag und ich werde, wie jeden Morgen, durch die Kinder geweckt. Hatte Jesus nicht gesagt, dass er klingeln wollte? Kurz überlege ich, ob ich das Klingeln überhört habe, aber dann lässt mir die Morgenroutine keine Zeit zum Nachdenken mehr. Erst als ich um kurz nach acht am Schreibtisch sitze und alles ruhig ist, erinnere ich mich wieder. Wollte Jesus nicht wieder zu mir kommen? Gestern war er doch so real neben mir und mit mir unterwegs. Oder war das alles nur ein Traum? Komisch.

Ich lese im Kalender „Der andere Advent“ von einem Vater, der über das Leben mit seinem Sohn Anton schreibt. Anton ist ein Down-Kind. Er schreibt: „Vielleicht gibt es Kinder wie Anton bald nicht mehr. Vielleicht sterben sie langsam aus, weil die Untersuchung von ein paar Tropfen Blut der Mutter sie noch weit vor ihrer Geburt verrät. Vielleicht. Inzwischen fühle ich mich in gewisser Weise privilegiert, Vater von Anton zu sein. Er hat mich nicht zu einem besseren Menschen gemacht, aber er öffnet mir die Augen für das, was wichtig ist. Zeit haben, sich Zeit nehmen. Zeit miteinander verbringen. Sich über kleine Erfolge freuen. Mit Rückschlägen umgehen. Geduld haben. Und Lachen. Toben. Reden, auch mal auf Antons Art.“ Im Sommer gab es in Nordhorn eine Ausstellung der Elterninitiative von Kindern mit Downsyndrom „Ich bin ich 21“ mit dem Titel „Kann die Welt auf uns verzichten?“. Mich hat diese Ausstellung mit den Bildern der Kinder und den Texten der Eltern sehr berührt. Nein, wir können nicht auf sie verzichten. In ihnen begegnet uns Jesus. Durch sie lernen wir das, das Leben mehrere Dimensionen hat und mehr ist, als wir so sehen und denken. Hauptsache gesund ist eben nicht die Hauptsache, sondern es ist nur eine Blickrichtung. Öffnen wir unser Leben für eine andere Sichtweise, dann lernen wir auch Menschen anders anzusehen. Wir sehen dann nicht, was ihnen fehlt, sondern was wir durch sie geschenkt bekommen. Machen wir doch unser „Leben auf“ für besondere Menschen!

Zwischendurch denke ich immer wieder: „Komisch, das Jesus gar nicht klingelt.“

Der Tag geht weiter. Mein heutiger Termin ist etwas Neues für mich. Ich besuche für den „AK Flüchtlingshilfe“ eine Familie. Ich soll fragen, was sich die Kinder zu Weihnachten wünschen. Ich habe Namen und Adresse und das ungefähre Alter der Kinder. Sonst Nichts. Keine Herkunft. Keine Info, wie lange sie schon hier sind, welche Sprache sie sprechen etc. Ich bin aufgeregt und weiß nicht, was mich erwartet und ich bitte Gott mit dabei zu sein. Hinterher weiß ich, dass sie zuerst Wintersachen brauchen und Weihnachtsgeschenke zweitrangig sind. Und ich weiß, dass man sich schon irgendwie versteht. Na klar, bekommt der kleine Junge bei dem Wort “Auto” oder “Fahrrad” leuchtende Augen. Das ist ja auch viel toller als Mütze, Handschuhe oder Winterschuhe. Aber was ist wichtiger? Übrigens hätte ich zum Mittag bleiben können. Aber (natürlich) hatte ich keine Zeit.

Zwischendurch denke ich immer wieder: „Komisch, das Jesus gar nicht klingelt.“

Wieder zu Hause lese ich einen Bibeltext, den ich schon x-mal gelesen habe:

Matthäus 25
34Dann wird der König zu denen rechts von ihm sagen: ‚Kommt her! Euch hat mein Vater gesegnet! Nehmt das Reich in Besitz, das Gott seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt hat.
35Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich als Gast aufgenommen.
36Ich war nackt, und ihr habt mir Kleider gegeben. Ich war krank, und ihr habt euch um mich gekümmert. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‘
37Dann werden die Menschen fragen, die nach Gottes Willen gelebt haben: ‚Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben?
Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
38Wann warst du ein Fremder und wir haben dich als Gast aufgenommen?
Wann warst du nackt und wir haben dir Kleider gegeben?
39Wann warst du krank oder im Gefängnis und wir haben dich besucht?‘
40Und der König wird ihnen antworten: ‚Amen, das sage ich euch: Was ihr für einen meiner Brüder oder eine meiner Schwestern getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend sind –, das habt ihr für mich getan.‘

Ach, Jesus, denke ich. Du stellst Dir das immer so einfach vor. Du kennst ja unseren Alltag heutzutage nicht. Wir haben Stress. Alle. Jeder hat zu tun und wir schaffen das einfach nicht, immer für die anderen da zu sein. Wir werden ja kaum der eigenen Familie gerecht. Die Kinder brauchen uns, die Eltern freuen sich, wenn wir uns mal melden und brauchen auch immer mehr Unterstützung. Der Job fordert uns, das Ehrenamt. Der Tag ist voll. Wann sollen wir da dann noch ins Gefängnis und hier und da Besuche machen. Und permanent dieses schlechte Gewissen…

Und dann habe ich wieder das Gefühl, dass Jesus direkt neben mir steht und antwortet. Mein liebes Kind, sagt Jesus: „Du musst nicht die Welt retten, das habe ich schon getan. Aber du kannst dein Leben öffnen. Du kannst dein Leben öffnen, für die Menschen, denen du Tag für Tag begegnest. In ihnen begegnest du mir. Was du ihnen tust, tust du mir. Du musst nicht an einem Tag alles machen. Kleine Dinge, kleine Schritte verändern die Welt. Hier eine sms, da ein liebes Wort und dort eine konkrete Hilfe. Mach dein Leben auf für die Menschen, die ich dir vor die Füße lege. Das reicht schon völlig aus. Und was das Beste ist: Wenn du dein Leben öffnest, hast Du am meisten davon. Du veränderst deine Sichtweise auf das Leben und auf den Glauben durch diese Menschen. Besondere Menschen, fremde Menschen, einsame Menschen liegen mir am Herzen. Sie wissen, dass sie sich nichts verdienen können. Sie brüsten sich nicht mit ihren guten Taten, sondern verlassen sich ganz und gar auf mich. Das ist es, was du von diesen Menschen lernen kannst. Sie haben nichts vorzuweisen außer ihren kleinen Glauben. Und das reicht völlig aus. Meine Gnade wird an ihnen sichtbar und spürbar. Schon zu meinen Lebzeiten auf der Erde waren es die Blinden, Tauben und Gelähmten die mich zuerst als Messias erkannt haben. An ihnen wurden Zeichen und Wunder deutlich. Die, die sich selbst als die Großen und Frommen ansahen, blieben blind.“

Jesus sieht mich an. „Dein Job und der deiner Mitchristen ist es mit offenen Türen, Herzen und einem offenen Leben durch den Alltag zu gehen. Das ist Advent. Und übrigens, ich bin immer mit dabei, egal ob ich klingel oder nicht, spätestens in den anderen Menschen triffst Du mich.“

Amen

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Predigt am 14.12.14, 3.Advent, Baptistenkirche Nordhorn

Bildnachweis: dwerner/photocase.de

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